Nach einem für Industrie und Wirtschaft schwierigen Jahr 2023 ist der Ausblick auf das heurige Jahr 2024 nach wie vor verhalten. „Die Deindustrialisierung ist keine Theorie, sondern Realität: International aufgestellte Betriebe verlagern Arbeitsplätze in andere Länder, Investitionen in Österreich werden aufgeschoben oder gestoppt“, beschreibt Kari Ochsner, Präsident der Industriellenvereinigung Niederösterreich (IV NÖ), in einer Pressekonferenz in St. Pölten die aktuelle Lage. Es besteht dringender Handlungsbedarf: „Wir brauchen umgehend echte Reformen, damit unsere Betriebe global wieder konkurrenzfähig werden. Wir wissen: Große Maßnahmen sind in einem Wahljahr normalerweise nicht populär – aber politischen Stillstand können wir uns jetzt keinesfalls leisten“, so Ochsner.
Die IV NÖ einen Katalog mit Forderungen zu strukturellen Reformen und gezielten Maßnahmen erarbeitet, um den Industriestandort Niederösterreich und Österreich wieder zu stärken und attraktiv für den Verbleib der heimischen Betriebe sowie für neue Unternehmensansiedelungen zu machen. Das sichert Zehntausende Arbeitsplätze jetzt und in der Zukunft.
Der Weltbank zufolge ist die globale Wirtschaft geradewegs dabei, einen Meilenstein der Trostlosigkeit zu passieren. Ihrer Prognose zufolge wird sich das weltweite Wirtschaftswachstum nochmals von 2,6 Prozent im Vorjahr auf 2,4 Prozent heuer verringern und sich damit noch weiter von der durchschnittlichen Expansionsrate in Höhe von 3,1 Prozent während der 2010er-Jahre entfernen. Ohne eine tiefgreifende Kurskorrektur sei zu erwarten, dass die 2020er-Jahre als eine Dekade der vertanen Chancen in die Annalen eingehen werden, erklärt IV-Chefökonom Christian Helmenstein.
Für Österreich als Exportnation sind das keine guten Nachrichten: Hierzulande ist die Wirtschaft 2023 nach den vorliegenden Schätzungen vermutlich noch stärker geschrumpft als in Deutschland, wo ein Rückgang der Wirtschaftsleistung in Höhe von 0,6 Prozent zu Buche steht. Bei einer BIP-Schrumpfung im Ausmaß von 0,8 Prozent in Österreich handelt es sich um die stärkste normalzyklische Rezession seit 1950 – lediglich die exogenen Schocks der Insolvenz von Lehman Brothers sowie der COVID-19-Pandemie führten zu noch höheren BIP-Einbußen hierzulande.
Zwar spielt die Schwäche der globalen Wirtschaft im Tandem mit jener des wichtigsten österreichischen Handelspartners Deutschland eine gewichtige Rolle für die rezessive Entwicklung in Österreich, doch diese Faktoren vermögen die Underperformance Österreichs im internationalen Vergleich nur zum Teil zu erklären. „Vielmehr ist den zunehmenden Defiziten in der Attraktivität des Wirtschaftsstandortes künftig weitaus mehr Bedeutung einzuräumen. Solange dies unterbleibt, übersetzt sich die strukturelle Schwäche Österreichs in konjunkturelle Apathie“, warnt Helmenstein. So ist der heimische Standort in der IMD-Rangliste von 64 Ländern zuletzt auf Platz 24 abgesackt – im Jahr 2007 rangierte das Land noch auf einem weitaus besseren elften Platz.
„Um das zu ändern, ist ein wirtschaftspolitischer Kurswechsel notwendig. Wurde durch hohe Subventionen vor allem Zeit für Anpassungen erkauft, wird immer deutlicher, wie dringend die österreichische Wirtschaft Strukturreformen benötigt”, führt Helmenstein weiter aus. Auf die aktuelle und die kommende Regierung sowie auf die nächste Europäische Kommission wartet eine Vielzahl unpopulärer, aber notwendiger Maßnahmen, um die Investitionstätigkeit zu unterstützen: am Arbeitsmarkt, bei der Bildung wie auch bei der Transformation der Energie- und Verkehrssysteme, bei der Digitalisierung, bei der Abgabenbelastung und vor allem bei der Verfahrensbeschleunigung sowie der umfassenden Entbürokratisierung. Nicht zuletzt wird es auch einer Pensionsreform sowie flankierender Maßnahmen zur Dämpfung der stark steigenden Pflegekosten bedürfen.
Der Geschäftsführer des international agierenden Glasverpackungsherstellers Vetropack Austria GmbH, Johann Eggerth, schildert, mit welchen Herausforderungen viele Industriebetriebe am Standort Österreich konfrontiert sind: „Unsere im europäischen Vergleich hohe Inflation und das etablierte Dogma ‚rollierende Inflation plus‘ für die Lohn- und Gehaltsentwicklung werden zunehmend zum Wettbewerbskiller. Die Lohnstückkostenentwicklung bereitet Sorge und ist mit den verfügbaren Hebeln zur Produktivitätssteigerung nicht mehr auszugleichen, besonders in Zeiten von Auslastungsrückgängen.“
Der Geschäftsführer betont, dass stark steigende Personalkosten bei sinkender Produktivität "ein giftiger Cocktail" seien, insbesondere wenn die direkten Wettbewerber geringere Kostensteigerungen verzeichnen würden, wie es in Deutschland der Fall sei, oder wenn Länder aus Osteuropa, die von einem deutlich niedrigeren Personalkostenniveau ausgehen, keine höheren Steigerungsraten als in Österreich aufwiesen.
Er unterstreicht: „Natürlich wünschen wir uns alle, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Lebensstandard in Zeiten höherer Inflation halten können. Aber das kann nur gelingen, wenn die Produktivitätsentwicklung mit den Kostenentwicklungen Schritt hält und wir international wettbewerbsfähig bleiben. Dieser Zusammenhang wird leider oft nicht im vollen Umfang erkannt.“ Für Eggerth hat Österreich als Standort für internationale Industriebetriebe weiterhin Zukunft, doch nur wenn es gelingt „besorgniserregende Entwicklungen zu stoppen und geeignete Rahmenbedingungen sicherzustellen“.
1.Wettbewerbsfähige Energiepreise: Österreichs Energiepreise gehören trotz des hohen Anteils an erneuerbarer Energie am Strommix zu den höchsten innerhalb Europas. Im Vergleich zu den USA sind die Energiepreise hier circa dreimal so hoch. Gerade für Niederösterreich ist dies besonders bedrohlich, da hier die Wertschöpfung zu mehr als 50 Prozent im Bereich der energieintensiven Industrie generiert wird. Betriebe, die energieintensiv produzieren, sind aktuell aufgrund der hohen Energiekosten im Vergleich zu Mitbewerbern im Ausland oft nicht konkurrenzfähig. Eine zielgerichtete Entlastungsmaßnahme wäre die Umsetzung des international üblichen Modells der Strompreiskompensation (SAG) bis 2030.
2. Sicherstellung einer ausreichenden und stabilen Energieversorgung, Ausbau der Netz-Infrastruktur & Beschleunigung von Genehmigungsverfahren: Für eine erfolgreiche Dekarbonisierung bis 2050 benötigt Österreichs Industrie Alternativen. Das sind aus jetziger Sicht Strom und Wasserstoff. Doch für diese Alternativen mangelt es an Netz-Infrastrukturleitungen. Diese Projekte müssen beschleunigten Genehmigungsverfahren unterzogen werden. Gleichzeitig muss verstärkt in die Forschung und Entwicklung neuer Speichertechnologien investiert werden, um die Effizienz und Kapazität bestehender Möglichkeiten zu verbessern und innovative Lösungen für die Herausforderungen der zukünftigen Energieversorgung zu schaffen.
3. Senkung der Steuern- und Abgabenquote, um Investitionen anzukurbeln: Österreich hat die dritthöchste Steuern- und Abgabenquote in der EU. Die Abgabenlast muss daher von derzeit rund 43 Prozent auf 40 Prozent zurückgehen. Das letzte, was Unternehmen jetzt brauchen, sind neue Belastungen wie Vermögens- und Erbschaftssteuern.
4. Senkung der Lohnnebenkosten: Die derzeitige Struktur des österreichischen Steuer- und Abgabensystems belastet den Faktor Arbeit im internationalen Vergleich viel zu hoch. Laut Eurostat lagen die Lohnnebenkosten im Jahr 2022 in Österreich zum Beispiel um mehr als drei Prozentpunkte höher als in Deutschland bzw. auch deutlich über dem EU-Durchschnitt.
5. Breiter gesellschaftlicher Diskurs zum Thema Leistung: Tatsache ist: Die Menschen werden alle härter arbeiten müssen, damit in Österreich der Wohlstand, die Lebensqualität und der Sozialstaat erhalten werden können. Die inhaltliche Auseinandersetzung muss bereits in der Schule beginnen, damit Jugendliche verstehen, dass der von unseren vorherigen Generationen erarbeitete Wohlstand nur durch ihren eigenen, motivierten Einsatz erhalten werden kann.
6. Leistung muss sich lohnen: In Österreich gibt es derzeit zu viele Anreize für weniger Arbeit - unabhängig davon, ob man arbeitslos, in Teilzeit oder in der Pension tätig ist. Es ist wichtig, Leistungsklarheit wieder herzustellen: Arbeit muss sich mehr lohnen als Nicht-Arbeit, und Vollzeitarbeit finanziell spürbar attraktiver sein als Teilzeitarbeit. Zudem braucht es Anreize für ältere Menschen im Pensionsalter, die gerne arbeiten möchten, etwa durch die Befreiung von Abgaben.
7. Gezielte Migration von Fach- und Arbeitskräften als Schlüsselfaktor für einen wettbewerbsfähigen Standort: Österreich braucht eine offene Arbeitskultur und muss einen Paradigmenwechsel vom Verwalten zum Gestalten des Zuzugs von Menschen aus Drittstaaten vornehmen. Die Rot-Weiß-Rot-Karte ist ein wichtiges Instrument, jedoch ist die Zahl der ausgestellten Genehmigungen weiter zu steigern. Österreich muss auch selbst einen Pool an ausländischen Fachkräften schaffen – das kann durch strategische Ausbildungspartnerschaften mit Drittländern gelingen. Damit könnte man die hohen österreichischen Standards exportieren und eine Passgenauigkeit zwischen dem Arbeitskräftebedarf in den heimischen Unternehmen und den Qualifikationen der Zuwandernden sicherstellen.
9. Anreize für Investitionen in die grüne Transformation: Um Unternehmen weiter zu ermutigen, in umweltfreundliche Technologien zu investieren, braucht es attraktive Bedingungen. Der Umstieg auf saubere Energiequellen ist wichtig, um den Klimawandel zu bekämpfen. Das ist gut für die Umwelt und eine große Chance, damit unser Land wirtschaftlich noch erfolgreicher ist. Die österreichische Green Tech-Industrie ist weltweit führend.
10. Abschluss internationaler Handelsabkommen: Niederösterreichs Industrie ist stark exportorientiert. Partnerschaften eröffnen verbesserte Zugänge zu internationalen Märkten und stärken die Wettbewerbsfähigkeit. Österreichs Politik muss sich für den Abschluss zusätzlicher EU-Handelsabkommen, insbesondere mit dem bedeutenden südamerikanischen Staatenblock Mercosur, einsetzen.
„Wir stehen an einem entscheidenden Punkt für die Zukunft unserer Industrie, unseres Wohlstands und unserer Lebensqualität – denn die wundersame Brotvermehrung gibt es nur in der Bibel“, unterstreicht Ochsner abschließend und drängt: „Die vorgestellten Reformen sind keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Wir nehmen dabei wohlwollend zur Kenntnis, dass vonseiten der Bundes- und Landesregierung Signale kommen, dass die Anliegen der Industrie Gehör finden. Extreme Sichtweisen am linken oder rechten Rand schaden hingegen dem Standort. Ohne starke Industrie hat Österreich keine positive Zukunft vor sich. Darüber hinaus ist die heimische Industrie eine der umweltfreundlichsten und trägt damit zur Entlastung des Planeten bei.“