„Die konjunkturellen Aussichten für die österreichische Industrie trüben sich weiter ein. Sowohl das Gesamtbarometer der IV-Konjunkturerhebung als auch sämtliche seiner Einzelindikatoren sind nach unten gerichtet. Die österreichische Industrie steht vor einer Rezession im Winterhalbjahr 2022/23. Seit nunmehr bereits fünf Quartalen hintereinander flaut der jeweils aktuelle Geschäftsgang in der Industrie im Vergleich zum Vorquartal ab. Hier schlagen sich seit geraumer Zeit die vielfältigen wirtschaftlichen Verwerfungen aus der Koinzidenz mehrerer Großkrisen (Pandemie, Krieg in der Ukraine, Inflation) nieder, doch wirkt der noch vorhandene Auftragsbestand aus den Vorperioden bis dato stabilisierend, welcher nicht zuletzt eine positive Spätfolge der seinerzeitigen Investitionsprämie zur strukturwandelfördernden Dämpfung der COVID-Effekte ist. Im Zuge einer Entspannung bei den Lieferkettenstörungen gehen die Auftragsbestände nunmehr allerdings beschleunigt zurück. Die noch vorhandene Auftragsreichweite wird nicht ausreichen, um ein Durchtauchen der kommenden wirtschaftlichen Schwächephase zu ermöglichen“, zeichnete Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV) am heutigen Montag in einer Pressekonferenz das aktuelle Konjunkturbild.
„Im besten Fall steht Österreich aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive damit eine Phase der stagnativen realwirtschaftlichen Entwicklung in Kombination mit einer seit 70 Jahren ungekannt hohen Geldentwertungsrate bevor. Dennoch handelt es sich nicht um eine „Stagflation“ im klassischen Sinne, welche konzeptionell ein Tandem aus einerseits inflationsinduziertem und andererseits beschäftigungsverlustbedingtem Kaufkraftschwund in Verbindung mit hoher Arbeitslosigkeit bezeichnet. Die gegenwärtige makroökonomische Lage ist nicht mit früheren Stagflationsphasen vergleichbar, denn eine sprunghafte Zunahme der Arbeitslosigkeit zeichnet sich derzeit nicht ab“, so IV-Chefökonom Christian Helmenstein. „Doch dies allein gewährleistet noch keinen raschen Wiederaufschwung ab der zweiten Jahreshälfte 2023, solange die Energiekosten am Produktionsstandort Österreich bei einem Mehrfachen des nordamerikanischen und asiatischen Niveaus verharren. Vielmehr ist eine inkrementelle De-Industrialisierung mit daraus erwachsenden Wohlstandsverlusten zu befürchten.“
Die Ergebnisse der aktuellen IV-Konjunkturumfrage
Das IV-Konjunkturbarometer, welches als (gewichteter) Mittelwert aus den Beurteilungen der gegenwärtigen Geschäftslage und der Geschäftslage in sechs Monaten bestimmt wird, verzeichnet zu diesem Termin einen seltenen Vorzeichenwechsel. Sein Wert ermäßigt sich kräftig um über 19 Punkte auf nunmehr -2,0 Punkte. In retrospektiver Betrachtung indizierte ein solches Niveau des IV-Konjunkturbarometers stets eine bevorstehende Rezession in der österreichischen Industrie.
Dieser neuerliche Rückgang des IV-Konjunkturbarometers ist sowohl auf die Teilkomponente der aktuellen Geschäftslage als auch auf die Einschätzung der Geschäftsaussichten zurückzuführen. Ersterer Saldo sinkt von 56 Punkten auf 42 Punkte, was wesentlich darauf zurückzuführen ist, dass sich der Anteil der Unternehmen mit einem schon derzeit dezidiert schlechten Geschäftsverlauf von 4% auf 11% nahezu verdreifacht. Noch drastischer fällt die Revision der Geschäftsaussichten mit einem Horizont von sechs Monaten aus. Dieser Indikator stürzt von -22 Punkten regelrecht ab und dringt mit -46 Punkten tief in negatives Terrain vor. Nur noch jedes zwanzigste Industrieunternehmen erwartet im kommenden Halbjahr einen günstigen Geschäftsverlauf, während bei einem Anteil von 51% jedes zweite Unternehmen mit einer zum Teil erheblichen Verschlechterung rechnet.
Mit einem Saldo von +52 nach zuvor +62 Punkten liegen die Gesamtauftragsbestände in der Industrie nach wie vor auf einem auskömmlichen Niveau, allerdings setzt sich die zum Vorquartal zu verzeichnende, negative Trendumkehr fort. Zugleich verringert sich die Auftragsreichweite in einem beträchtlichen Tempo, was wiederum mit der Einschätzung düsterer Geschäftsaussichten korrespondiert. Insbesondere beginnt die Komponente der Auslandsaufträge, deren Saldo sich von +64 Punkten auf +49 Punkte verringert, trotz einer Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar im Ausmaß von 16% im Vorjahresvergleich rasch zu erodieren.
In Übereinstimmung mit dem durch substanzielle Störfaktoren geprägten Gesamtbild passen die Unternehmen ihre Produktionserwartungen an das erheblich eingetrübte Konjunkturbild an. In saisonbereinigter Analyse der kurzfristigen Produktionserwartungen dreht der Saldo von plus +14 Punkten auf nunmehr -6 Punkte, was die Aussichten einer rezessiven Entwicklung in der österreichischen Industrie in den kommenden Monaten unterstreicht.
Die höchste Einbuße unter allen Indikatoren verzeichnet zu diesem Termin die Einschätzung der Beschäftigungsaussichten, nachdem selbige sich infolge des Fachkräftemangels über geraume Zeit hinweg freundlich dargestellt hatten. Der zugehörige Saldo verringert sich zu diesem Termin von +24 Punkten um 26 Punkte auf -2 Punkte. Der auch hier zu verzeichnende Vorzeichenwechsel ist das Ergebnis von zwei parallel zueinander verlaufenden Prozessen. Einerseits bildet sich die Einstellungsneigung der Unternehmen trotz des Fachkräftemangels weiterhin sukzessiv zurück, aber immerhin beabsichtigt noch knapp jedes fünfte Unternehmen, seine Humankapitalbasis auszuweiten. Zugleich nimmt jedoch der Anteil jener Unternehmen, welche ihren Beschäftigtenstand nicht zu halten vermögen, auf Sicht der nächsten drei Monate sprunghaft von 4% auf 20% zu.
Mit einem Saldo von +42 Punkten nach zuvor +43 Punkten erhärtet sich die Einschätzung, dass auf der Ebene der Erzeugerpreise der obere Wendepunkt der Preisauftriebsdynamik erreicht worden ist. Der nach wie vor außergewöhnlich hohe und dazu noch stabile Wert dieses Indikators weist jedoch darauf hin, dass der zuletzt zu beobachtende Preisauftrieb weder ein auf wenige Warenkategorien beschränktes noch ein vorübergehendes Phänomen bleiben wird. Unter Berücksichtigung der betreffenden Vorlaufzeiten dürfte der Höhepunkt der Inflation gemäß Verbraucherpreisindex im ersten Quartal 2023 erreicht werden –vorausgesetzt, dass keine Gasmangellage in Europa eintritt.
Die Vielzahl der konjunkturellen Störfaktoren schlägt sich zunehmend stärker in der aktuellen Ertragslage der Unternehmen nieder. Der betreffende Saldo bildet sich zum vierten Mal in Folge zurück. Zu diesem Termin ist ein neuerlich kräftiger Rückgang von +25 Punkten auf +9 Punkte zu verzeichnen. Mit minus 35 Punkten kommt der Saldo der Ertragserwartungen auf Sicht des nächsten Halbjahres in noch stärker negativem Terrain zu liegen. Damit bringt er die auf Sicht des nächsten Halbjahres im Durchschnitt der Respondenten äußerst pessimistischen Ertragserwartungen zum Ausdruck.
Die IV-Konjunkturumfrage: Zur Befragungsmethode
An der jüngsten Konjunkturumfrage der Industriellenvereinigung beteiligten sich 410 Unternehmen mit rund 294.000 Beschäftigten. Bei der Konjunkturumfrage der IV kommt folgende Methode zur Anwendung: Den Unternehmen werden drei Antwortmöglichkeiten vorgelegt: positiv, neutral und negativ. Errechnet werden die (beschäftigungsgewichteten) Prozentanteile dieser Antwortkategorien, sodann wird der konjunktursensible „Saldo“ aus den Prozentanteilen positiver und negativer Antworten unter Vernachlässigung der neutralen gebildet.