„Das dritte Quartal 2022 markiert den Beginn der rezessiven Entwicklung in der österreichischen Industrie. Bei konjunkturell anhaltend schwieriger Lage in der Warenherstellung während des ersten Halbjahres 2024 steht die österreichische Industrie nach Maßgabe der aktuellen Ergebnisse der IV-Konjunkturerhebung somit vor ihrem dritten Rezessionsjahr“, zieht IV-Generalsekretär Christoph Neumayer Bilanz. Nach wie vor liegt ihre Bruttowertschöpfung um real über 3% unter jener des vergleichbaren Zeitraumes des Jahres 2023.
„Unter erheblichen monatlichen Schwankungen zeichnet sich zwar, wie bereits zum letzten Termin avisiert, eine inkrementelle Verbesserung der Lage ab. Allerdings wird dies im weiteren Jahresverlauf lediglich zu einer quasi-stagnativen Entwicklung im Vergleich zu den jeweiligen Vorquartalen führen, während gegenüber dem Vorjahr weiterhin erhebliche Wertschöpfungseinbußen zu verzeichnen sein werden. Zugleich werden die einzelnen Industriebranchen weiterhin markant unterschiedliche Dynamiken aufweisen“, erklärt IV-Chefökonom Christian Helmenstein. Während die Nahrungs- und Genussmittelindustrie sowie die Bauindustrie jüngst von einer verbesserten Auftragslage berichten, hat sich selbige in der metalltechnischen Industrie ebenso wie bei den industriellen Baustoffherstellern (Steine/Keramik) und in der Fahrzeugindustrie (zum Teil nochmals) erheblich verschlechtert.
Ein grundlegender konjunktureller Umschwung zum Besseren ist derzeit außer Sichtweite. Dazu bedürfte es einer Erholung, welche die österreichische Industrie in ihrer Breite erfasst und über längere Zeit durch private und öffentliche Investitionen getragen wird. Vielmehr besteht Anlass zur Sorge, dass das seit den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts zu beobachtende konjunkturelle Erholungsmuster sich in diesem Zyklus erstmals nicht wiederholen könnte: Ausnahmslos jeder Aufschwung in Österreich setzte während des letzten Dreivierteljahrhunderts mit einem außenwirtschaftlichen Impuls ein, welcher über eine zunehmende Investitionstätigkeit in Verbindung mit einer steigenden Beschäftigung und wachsenden Lohnsumme die Konsumnachfrage anregte und schließlich über ein zunehmendes Steuer- und Abgabenaufkommen auch eine expansive Staatsnachfrage alimentierte.
Der notwendige außenwirtschaftliche Impuls könnte dieses Mal ausbleiben, denn dazu bräuchte es eine dynamischere Entwicklung der Weltwirtschaft, die sich derzeit nicht abzeichnet. Noch bedeutender aber ist, dass exportorientierte Volkswirtschaften wie die österreichische auf offene Märkte angewiesen sind, die handelspolitische Realität jedoch eine gegenteilige Entwicklung nimmt. „Die Anzahl protektionistischer Maßnahmen wächst ständig, während handelsliberalisierende und -dynamisierende Abkommen, wie jenes mit den MERCOSUR-Staaten blockiert werden. Hinzu kommt eine nachteilige Entwicklung der Standortattraktivität Österreichs im internationalen Vergleich, die sich in einer ungünstigen Entwicklung der heimischen Produktionsbasis aufgrund eines sich ändernden Direktinvestitionsverhaltens grenzüberschreitend tätiger Unternehmen niederschlägt. Besonders gravierend wirkt sich schließlich die drastisch verschlechterte Kostenposition der österreichischen Industrie infolge eines enormen Anstiegs der Lohnstückkosten, der Energiekosten und der Bürokratiekosten aus – Exporterfolge setzen aber ein wettbewerbsfähiges Produkt- und Dienstleistungsportfolio voraus, sonst wird die heimische Wirtschaft nicht nur nicht an den noch vorhandenen Chancen des Weltmarktes partizipieren können, sondern weiterhin Marktanteile verlieren. Das würde das Ende des bis dato erfolgreichen Geschäftsmodells der Österreich AG bedeuten“, warnt Helmenstein.
Ein Hebel zur Verbesserung der Standortattraktivität ist der Abbau der bürokratischen Auflagen: „Bürokratie, in ihren zahlreichen Formen und Facetten, kann sowohl ein starker Verbündeter als auch ein erheblicher Hemmschuh sein. Bei gesetzlichen Vorgaben muss der administrative Aufwand stets in Relation zu einem zusätzlichem Informations- und Transparenzgewinn stehen – in vielen Punkten ist das heute leider nicht mehr der Fall – Unternehmen finden sich tagtäglich in einem Bürokratiedschungel wieder“, so Neumayer. Um Berichts- und Meldepflichten für Unternehmen zu reduzieren, gibt es viele kleine Schrauben, an denen gedreht werden muss, „dabei geht es um Maßnahmen, wie der Einführung einer „Growth Duty“, Einheitlichkeit bei der Auslegung der EU-Berichterstattung oder auch die Durchsetzung des Once-Only-Prinzips. Aber auch schon kleinere Schritte, wie der Möglichkeit, die Unterlagen auf Englisch einzureichen, sei es zum Firmenbuch oder auch das Führen der Bücher und Aufzeichnungen im Bereich des Steuerrechts, wären eine wesentliche Erleichterung.“
Die Ergebnisse der aktuellen IV-Konjunkturumfrage
Die Einschätzung der aktuellen Geschäftslage durch die Unternehmen fällt nunmehr bereits seit zwölf (!) Quartalen ununterbrochen schwächer aus und entfernt sich dementsprechend immer weiter von der Nulllinie. Beunruhigend ist auch, dass die Dynamik des Rückganges zuletzt wieder zugenommen hat, sodass der aktuelle Saldo bei -9 Punkten (nach zuvor -3 Punkten) zu liegen kommt.
Bereits zum dritten Mal gegenläufig entwickelt sich die Einschätzung der Geschäftslage in sechs Monaten, deren Saldo sich um 6 Punkte verbessert und die erstmals seit zehn Quartalen wieder mit einem Saldo von +2 Punkten in marginal positivem Terrain zu liegen kommt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Anteil der Respondenten, die auf Sicht des nächsten Halbjahres mit einer Verbesserung der Geschäftslage rechnen, gänzlich unverändert bei 13% verharrt. Der Anstieg des Indikators ist ausschließlich darauf zurückzuführen, dass nunmehr 11% nach zuvor 17% der Respondenten ein weiterhin schrumpfendes Geschäftsvolumen auf Sicht des nächsten Halbjahres erwarten. Dieser nach wie vor beträchtliche Anteil der Unternehmen, die sich mit einer anhaltend rezessiven Dynamik konfrontiert sehen, hat sich gegenüber dem Wert zum Jahreswechsel 2023/2024 immerhin mehr als gedrittelt, betrug er seinerzeit doch 37%. Drei Viertel der Unternehmen – 76% – erwarten eine stagnative Entwicklung.
Beide Indikatoren markieren somit noch keine konjunkturelle Wende in Richtung einer Konjunkturerholung oder gar eines Aufschwunges. Per saldo bleibt das IV-Konjunkturbarometer, welches als (gewichteter) Mittelwert aus den Beurteilungen der gegenwärtigen Geschäftslage und der Geschäftslage in sechs Monaten berechnet wird, mit einer Veränderung lediglich in der ersten Nachkommastelle (-3,7 Punkte nach -3,4 Punkten) materiell unverändert. Dieses Ergebnis unterstreicht die Erwartung, dass die derzeit vorherrschende, rezessive Lage allmählich von einer stagnativen Phase abgelöst werden wird.
Mit einem Saldo von -12 nach zuvor -6 Punkten befinden sich die Gesamtauftragsbestände in der Industrie in weiter Entfernung von einem aufschwungsaffinen Niveau. Der Anteil der Unternehmen mit derzeit unterausgelasteten Produktionskapazitäten nimmt sogar abermals um zwei Prozentpunkte auf nunmehr 32% aller Respondenten zu. Der Verlust an Auftragsreichweite setzt sich damit weiter fort.
Auch bei der Subkomponente der Auslandsaufträge ist die zwischenzeitliche Verbesserung wieder hinfällig (Saldo -8 nach +2 und -8 in den beiden Vorquartalen). Hierdurch kommt zum Ausdruck, dass die österreichische Industrie mit zunehmenden Schwierigkeiten konfrontiert ist, ihre globale Marktposition zu halten. Etwas unterstützend wirkt, dass bezüglich der Auslandsaufträge auf Drittmärkten kein aufwertungsbedingter Gegenwind mehr besteht, da die europäische Gemeinschaftswährung – bei zwischenzeitlich erheblichen Schwankungen – gegenüber dem US-Dollar im Vorjahresvergleich per saldo um rund 3% abgewertet hat.
Angesichts des anhaltend negativen Konjunkturbildes, vor allem der insgesamt unzureichenden Auftragsbestände, rechnen die Unternehmen in saisonbereinigter Betrachtung kurzfristig weiterhin mit einer niedrigeren Produktionstätigkeit, wenngleich sich der Saldo der Produktionserwartungen in saisonbereinigtem Ausweis von -23 Punkten über -21 Punkte auf nunmehr -15 Punkte verbessert, doch bringt dieser Befund lediglich ein verringertes Tempo der Produktionsrücknahme zum Ausdruck.
Die weiterhin negativen Produktionsplanungen belasten die Beschäftigungsaussichten in der Industrie erheblich. Der Wert stellt sich auf -25 Punkte nach zuvor -21 Punkten. Hinter dieser Saldenbetrachtung verbirgt sich eine seit einem Jahr nahezu unveränderte Einstellungsneigung der Unternehmen – nur 8% der Respondenten (nach zuvor 9%) trachten binnen des laufenden Quartals nach einer Ausweitung ihres Beschäftigtenstandes – während ein Drittel (33% nach zuvor 30%) der Respondenten (weitere) Beschäftigungsverluste erwartet. Diese erneute Eintrübung der Beschäftigungsaussichten könnte eine grundlegend veränderte Haltung einer zunehmenden Anzahl von Unternehmen in ihrer Humanvermögensstrategie reflektieren. Einerseits verzögert sich die Aufschwungserwartung, andererseits sind die Kosten für das Horten insbesondere qualifizierter Arbeitskräfte drastisch angestiegen. Es ist diese Koinzidenz, die nunmehr dazu führt, dass Arbeitsvolumen trotz eines mittelfristig zu antizipierenden Arbeitskräftemangels in mitunter erheblicher Größenordnung abgebaut wird. Im Ergebnis ist mit einer höheren Fluktuation von Arbeitskräften innerhalb der Industrie, aber auch über Sektorgrenzen hinweg sowie in die sozialen Sicherungssysteme und in die Herkunftsländer ausländischer Beschäftigter zu rechnen.
Auf der Ebene der Erzeugerpreise verschärft sich das deflatorische Szenario angesichts einer anhaltenden und noch weiter zunehmenden Unterauslastung der Produktionskapazitäten wieder. Dem Gros der Industrieunternehmen gelingt es nicht, die hohe Kostenbelastung zumindest teilweise auf die Preise zu überwälzen, sodass der Saldo kräftig von -3 Punkten auf -14 Punkte zurückgeht. Von der Industriegüterkomponente wird daher in den kommenden Monaten weiterhin eine disinflatorische Wirkung ausgehen. Dennoch hängt die weitere Dynamik bei den Verbraucherpreisen in Österreich wesentlich davon ab, ob und in welchem Ausmaß auch der Dienstleistungssektor in den kommenden Quartalen einen der Geldwertstabilität förderlichen Beitrag in seinen Preisgestaltungen erbringt – und ob weitere Preisschocks bei der Versorgung mit fossilen Energieträgern ausbleiben.
Die Vielzahl der konjunkturellen Störfaktoren belastet die derzeitige Ertragslage der Unternehmen in gesamthafter Betrachtung in ausgeprägter Weise. Bei einem Saldo von -16 Punkten (nach zuvor -11 Punkten) berichtet rund ein Drittel der Unternehmen (34%) von einer dezidiert schlechten, weniger als jedes fünfte Unternehmen (18%) hingegen von einer guten Ertragslage. Bei den Ertragserwartungen auf Sicht von sechs Monaten sehen die Unternehmen weitere Belastungen für ihre Ertragslage (Saldo -12 nach -9) kommen. Während 21% der Unternehmen mit weiteren Ertragseinbußen rechnen, erwarten nur 9% der Unternehmen eine Verbesserung ihrer Ertragslage.
Die IV-Konjunkturumfrage: Zur Befragungsmethode
An der jüngsten Konjunkturumfrage der Industriellenvereinigung beteiligten sich 412 Unternehmen mit rund 313.366 Beschäftigten. Bei der Konjunkturumfrage der IV kommt folgende Methode zur Anwendung: Den Unternehmen werden drei Antwortmöglichkeiten vorgelegt: positiv, neutral und negativ. Errechnet werden die (beschäftigungsgewichteten) Prozentanteile dieser Antwortkategorien, sodann wird der konjunktursensible „Saldo“ aus den Prozentanteilen positiver und negativer Antworten unter Vernachlässigung der neutralen gebildet.