"Unternehmen haben eine große Verantwortung"

Seit 2013 führt Stefan Graf das im Familienbesitz befindliche Bauunternehmen Leyrer + Graf. Im Interview spricht er über aktuelle Herausforderungen, existenzielle und (noch) nicht existenzielle Krisen und was er am Zentralstandort Waldviertel so schätzt.

Zwischen vollen Auftragsbüchern und zu wenig Material, zu wenig Personal und hohen Energiekosten: Die vergangenen Jahre waren für die Baubranche von Höhen und Tiefen geprägt. Wie sieht es aktuell aus?

Höhen und Tiefen sind weiterhin da, aber das gehört zum normalen Wirtschaftsleben dazu. Die Auftragsbücher waren voll, man muss ehrlicherweise auch sagen zum Teil übervoll. Daher schadet uns eine gewisse Konsolidierung nicht. Es ist nicht das große Problem, wenn es um ein paar Prozentpunkte zurückgeht – fünf, sieben, zehn Prozent. Wenn es mehr wird, wird es unangenehm. Aber das sehen wir im Moment noch nicht. Am größten ist der Druck derzeit im Bereich Wohnbau. Hier gibt es die meisten Rückgänge bei Aufträgen und Ausschreibungen. Aber wir sind breit aufgestellt und können das gut abfedern.

Was wohl alle Bauherren – egal ob Unternehmer oder private Häuslbauer - interessiert: Sind weiter Preissteigerungen und Knappheit bei Materialien zu erwarten oder hat sich die Situation entspannt?

Unsere Kosten haben sich halbwegs eingependelt, wenn auch auf einem relativ hohen Niveau. Ich glaube, dass man, sofern sich am großen globalisierten Markt nichts Wesentliches ändert, wieder halbwegs kalkulieren kann. Das Problem ist allerdings unsere hohe Abhängigkeit von China. Wenn die Chinesen buchstäblich zu husten beginnen, etwa weil sie eine Corona-Welle haben und langsamer werden, wird die ganze Welt langsamer.

Wie schaut es in den Auftragsbüchern von Leyrer + Graf aus? Welche großen Projekte stehen 2023 an?

Wir machen viel im Bereich Breitband-Ausbau. Dort herrscht ein regelrechter Boom, da wird gebaut, gebaut, gebaut. Der einzige limitierende Faktor ist hier das Personal. Es gibt auch noch viele interessante Einzelprojekte, etwa den Bau einer Wasserleitung von Langenlois nach Zwettl oder ein Dachgeschoß-Ausbau in Wien mit einem Volumen von ca. 15 Millionen Euro. In der Bundeshauptstadt sind wir außerdem in den U-Bahn-Ausbau involviert. Wir führen viele Begleitmaßnahmen durch, etwa Vorsondierungen, das Umlegen von Straßenbahngleisen oder die Verstärkungen von Gebäuden.

Ihr Unternehmen hat eine starke Nachhaltigkeitsstrategie entwickelt. Wie setzen Sie diese um?

Ich habe ein Problem mit dem Begriff Klimakrise. Für mich persönlich geht eine Krise fundamental ins Existenzielle hinein. Meiner Meinung nach ist es noch nicht existenziell. Aber wenn wir heute nichts tun, wird es existenziell. Jetzt klebe ich mich nicht an Straßen, sondern schaue: Was können wir tun?

Wir haben daher klare Nachhaltigkeitsziele im Unternehmen formuliert. Ein Team kümmert sich um die Umsetzung und um Maßnahmen, die drohende Krise aktiv zu bekämpfen. Das Spektrum reicht von neuen Technologien über Produkte bis hin zum Plan, als Kompensation Bäume zu pflanzen. Wir nehmen an Forschungsprojekten teil, testen Wasserstoff-Generatoren und sogar einen mit Wasserstoff betriebenen Lkw, bauen unsere E-Mobilitäts-Flotte massiv aus und führen Energiemessungen durch, um CO2-Neutralität zu erreichen. Ich bin überzeugt: Technologie und nicht Verzicht ist der Schlüssel zur Lösung.

Technologisch wäre die Menschheit außerdem schon längst in der Lage, alles grün zu machen. Es müssen nur die Technologien in unsere Systeme integriert werden. Aber das braucht Zeit.

Wie wichtig ist Ihnen der Klimaschutz?

Es ist mir persönlich sehr wichtig. Ich komme aus dem Waldviertel. Dort sehe ich, was der Klimawandel mit den Wäldern macht. Es hat keinen Sinn, über Brasilien zu schimpfen, dass dort der Urwald gerodet wird. Das können wir nicht beeinflussen. Ich kann auch nicht verhindern, dass im Waldviertel die Wälder teilweise massiv wegen dem Borkenkäfer gerodet werden müssen. Aber ich kann meinen Beitrag leisten, in dem ich zum Beispiel sage: Wir pflanzen Bäume. Wenn jeder Österreicher nur einen Baum pro Jahr setzt, dann wären das ca. neun Millionen Bäume. Ein Baum kostet nicht viel, die Wirkung wäre jedoch einzigartig.

Wie innovationsaffin ist eigentlich die Baubranche?

Jeder Baustoff hat seine Stärken und wird dort eingesetzt, wo er passt. Ich glaube nicht, dass sich da allzu viel ändern wird. Was sich ändert, ist die Art und Weise, wie wir die Gebäude errichten: digitalisierter und automatisierter. Digitalisierung und Automatisierung ergibt zusammen das Thema Robotik. Ich glaube, dass sich da einiges tun wird. Unsere Produkte selbst werden jedoch nie digital sein. Das Haus wird immer physisch sein.

Der zweite Trend ist Nachhaltigkeit. Die Baubranche bewegt enorme Massen und hat einen enormen Energiebedarf.  Die Frage ist: Wie kommen wir zu einer sauberen, nachhaltigen Energie für unsere Leistungen?

Stichwort Energiewende: Ist es für die Baubranche realistisch möglich, diese zu schaffen - sprich weg von der fossilen Energie und hin zur sauberen Energie?

Ich sage: Ja, das ist möglich - ohne, dass ich jetzt den Beweis antreten kann. Ich sage das mehr aus einer Vision herauskommend, weil dazu noch viele Fragen zu beantworten sind. Denn jede Transformation kostet Geld. Auch Nachhaltigkeit kostet Geld. Neue Investitionen, Technologien. Das muss irgendjemand zahlen und da muss man aufpassen, dass es nicht zu Wohlstandsverlusten kommt, weil es zu weniger Wertschöpfung kommt –dort glaube ich, sind die großen Fragen verborgen.

Themenwechsel: Wie geht es bei Ihnen mit den Lehrlingen? Finden Sie genug?

Bei Lehrlingen sind wir sehr gut versorgt. Wir haben eine lange Erfahrung mit der Lehrlingssuche und der Lehrlingsausbildung. Es kann immer ein bisschen mehr sein, aber das wäre Raunzen auf hohem Niveau.

Wie schaut es mit Arbeitskräften aus?

Wir könnten deutliche mehr Leute einstellen. Wir haben mehr als 100 Jobinserate draußen. Wir könnten mehr machen, wenn wir mehr Personal hätten.

Was muss Ihrer Meinung nach getan werden, damit sich die Situation am Arbeitsmarkt bessert?

Ich will zunächst wertfrei einige Zahlen und Fakten in den Raum stellen. Laut AMS-Chef Johannes Kopf haben wir mehr Köpfe in Beschäftigung als vor Corona, aber die geleisteten Arbeitsstunden sind weniger. Offensichtlich ist die Bereitschaft in der Bevölkerung, Leistung zu erbringen geringer geworden. Aber: Wenn es früher gegangen ist, mehr zu leisten, muss man sich anschauen, warum das jetzt nicht mehr so ist.

In Österreich waren mit Ende Dezember 2022 374.871 Menschen beim AMS als arbeitslos oder in Schulungen gemeldet Für das Gesamtjahr 2022 ergibt sich eine Arbeitslosenquote von 6,3 Prozent, laut Ministerium für Arbeit und Wirtschaft der niedrigste Wert seit 2008. Auf der anderen Seite sind laut AMS 120.000 Stellen unbesetzt. Wir könnten also jede offene Position des AMS mit den Arbeitslosen dreifach besetzen.

Zusätzlich sind in Österreich ca. 400.000 Menschen unter 65 Jahren in Frühpension. Nimmt man Arbeitslose und Frühpensionisten zusammen, dann ist man bei ungefähr 700.000 Menschen – bei 120.000 offenen Stellen. Hier liegt das wahre Potenzial, das es zu heben gilt.

Ich bin wirklich ein Anhänger des Sozialstaates und ich zahle gerne meine Steuern für den Sozialstaat. Aber in Österreich ist er überbordend, gemessen an den Zahlen, die ich gerade genannt habe.

Abgesehen vom Arbeitskräftemangel, welche weiteren großen Herausforderungen sehen Sie für die Industrie?

Die Taxonomie-Verordnung wird noch viele Fragen aufwerfen, weil es wenig Erfahrung auf dem Gebiet gibt. Auch im Bereich Bürokratie kommt noch einiges auf uns zu – Stichwort Lieferketten-Verordnung.

Was uns noch länger beschäftigen wird ist die immer stärker angesprochene drohende Deindustrialisierung Europas. Jetzt kommt an die Oberfläche, was aufgrund der Globalisierung schon vor zehn, 15 Jahren begonnen hat. Jetzt kommen die Themen raus, jetzt sehen wir es, jetzt spüren wir es. Da müssen uns Lösungen einfallen, denn der Trend muss sich umdrehen. Das ist nicht einfach zu schaffen. Ansonsten werden vielleicht nicht ich, aber möglicherweise meine Kinder erleben, dass sich Europa von der ersten Welt zur zweiten Welt zurückentwickelt.

Corona, Ukraine-Krieg, hohe Energiepreise, Inflation: Eine Krise und jagt die nächste. Das ist eine nie dagewesene Situation für unsere Generation. Wie gehen Sie als Unternehmer damit um?

Wir haben als Unternehmen eine große Verantwortung und gleichzeitig eine einmalige Chance, positiv einzuwirken. Ich bin der Meinung, dass wir keine materielle Krise haben, denn egal, wo ich hinschaue, materiell ist alles da, alles verfügbar. Wir haben eine emotionale Krise, weil sehr viele Menschen Ängste und Sorgen haben. Und es macht einen Unterschied, ob ich eine echte Krise oder die Angst vor einer Krise bekämpfe. Ich glaube, dass man in einem ersten Schritt die Angst davor bekämpfen muss.

Mir ist es ein wichtiges Anliegen, diese Ängste zu bekämpfen. Daher habe ich spezielle Leitlinien für 2023 ausgearbeitet, wo ich sehr auf das Thema Krise eingehe und wo ein klarer Auftrag an die Führungsmannschaft formuliert ist. Ziel ist, den Mitarbeitern im Unternehmensumfeld Verbundenheit, Sicherheit und Stabilität zu geben.

Die Wurzeln Ihres Familienunternehmens liegen in Niederösterreich, die Hälfte der Aufträge wird mittlerweile aber in Wien realisiert. Welche Vor- und welche Nachteile hat der Headquarter-Standort im Waldviertel?

Einen stark verwurzelten Baum zu nehmen und umzusetzen ist nicht gut. Das gleiche gilt für uns. Wir sind im Waldviertel Marktführer. Man kennt uns und in diesem Netzwerk können wir gut agieren. Zudem schätze ich die Schönheit und die Vielfalt dieser ländlichen Region.

Allerdings dünnt das Waldviertel personell und infrastrukturell immer mehr aus. Wir müssen etwa unsere Mitarbeiter von dort zu den großen, umsatzstarken Baustellen in die urbanen Regionen transportieren. Da sind weite Strecken zurückzulegen, das kostet Geld, fossile Energie und ist für die Mitarbeiter oft nicht ganz angenehm. Aber wir finden immer gute Lösungen.

Ich selbst bin auch sehr viel unterwegs, weil ich zu den Auftraggebern, zu den Interessensvertretungen nach Wien fahre, um persönliche Gespräche zu führen. Mein Ansatz ist: Man muss schauen, dass man die Vorteile aus beiden Welten miteinander kombiniert. Wenn ich meine Reisetätigkeit nicht als Belastung empfinde, sondern als Schönheit, weil ich Vielfalt erleben kann, dann fällt die Belastung weg.

Sie sind auch Industriegruppensprecher des Waldviertels, welche Anliegen haben Sie für den Standort Waldviertel?

Ich habe eine persönliche Waldviertel-Vision, die ich umsetzen möchte. Diese lautet: „Das Waldviertel im Jahr 2040: Wir leben in einer prosperierenden und modernen Region, die geprägt durch die einzigartige Umgebung in der Schönheit und Vielfalt ihrer Natur den in starker Gemeinschaft verbundenen Menschen Heimat und Wohlstand bietet.“ Ich bin sehr aktiv in das Projekt involviert und führe dazu viele Gespräche mit Vertretern aus Wirtschaft, Politik und von Bildungseinrichtungen, um Kontakte zu knüpfen und um möglichst viele einzuladen, mitzumachen.

Wenn Sie drei grundlegende Dinge am Industriestandort Niederösterreich ändern könnten, was würden Sie tun?

Niederösterreich ist grundsätzlich gut aufgestellt. Die Probleme, die es gibt – beispielsweise am Arbeitsmarkt oder im Bereich der Regularien -, sind für mich eher auf Bundesebene oder sogar auf EU-Ebene zu lösen. Da könnte Niederösterreich höchstens die oft zitierte „Achse“ in die Bundesregierung aktivieren.

Was Niederösterreich aber sicher belastet, ist das enorme Ungleichgewicht zwischen der ländlichen Region und der urbanen Region rund um Wien. Was sich im Speckgürtel abspielt, das ist ein Zuviel. Im Gegensatz dazu gibt es in den ländlichen Regionen, besonders im Waldviertel, ein Zuwenig. Ich denke, hier wäre ein Ausgleich gut.


Leyrer + Graf zählt mit rund 2.400 Mitarbeitern zu den größten Bauunternehmen Österreichs. Die Unternehmensgruppe ist im Hoch- und Tiefbau, in der Elektrotechnik und in der Holztechnik tätig. Weiters betreibt sie ein Schotterwerk in Schrems und mehrere Asphaltmischanlagen sowie eine Betonerzeugung in Gmünd. Gebaut wird fast alles, von Gartenmauern über Autobahnknoten bis hin zu großen Einkaufszentren. Leyrer + Graf umfasst 18 Standorte, der Firmensitz befindet sich in Gmünd/ NÖ.