Johannes Hahn war Wissenschaftsminister in Österreich und ist seit 2010 EU-Kommissar, zuletzt zuständig für Haushalt und Verwaltung. Im April war er zu Gast beim ersten Industrieforum NÖ+OÖ. Im Interview spricht er über die Wettbewerbsfähigkeit Europas, warum die Europäische Union manchmal so kompliziert ist und über seine Pläne nach seiner nun zu Ende gehenden Amtszeit als Kommissar.
Der europäische Industriestandort steht gewaltig unter Druck: Was können und müssen wir tun, um Europa wieder global wettbewerbsfähig zu machen?
Die Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit Europas ist eine der Top-Prioritäten der Strategischen Agenda der EU für die Jahre 2024 – 2029. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Mitgliedstaaten und die EU an einem Strang ziehen! Als zielführende Maßnahmen sehe ich vor allem die Vollendung des Binnenmarktes, die Förderung innovativer Technologien, wo die EU dank Green Deal und digitale Agenda sich bereits bestens positioniert hat sowie den Bürokratieabbau auf EU- und nationaler Ebene. Die Europäische Union hat großes Potential: gut ausgebildete Arbeitskräfte, Innovationskraft – und vor allem sozialen Frieden und Stabilität sowie Rechtsstaatlichkeit, die für Investitionen unerlässlich sind.
Wie kann und muss das nächste EU-Budget aussehen, um zur Stärkung Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschafts- und Industriestandortes Europa beizutragen?
Nachdem das EU-Budget in Zahlen gegossene Politik ist, müssen im künftigen mehrjährigen EU-Budget jene Bereiche finanziell gut ausgestattet werden, die zur globalen Wettbewerbsfähigkeit der Union beitragen: also etwa die Bereiche Forschung & Innovation, neue Technologien in den Bereichen Umwelt, Bio- und Computerwissenschaft sowie gemeinsame, länderübergreifende Projekte, die europäischen Mehrwert bringen, wie es im Verkehrs- oder Energiebereich bereits geschieht. Wir haben mit der Initiative STEP bereits einen guten Ansatz für die Förderung neuer Technologien auf den Weg gebracht, aber natürlich müssen ist das nur ein erster Schritt und braucht im künftigen EU-Budget eine entsprechende finanzielle Ausstattung.
Aus meiner Sicht gibt es zwei Wege, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU budgetär sicherzustellen. Entweder die Mitgliedstaaten zahlen höhere Beiträge in das EU-Budget oder man ändert die derzeitige Struktur des EU-Budgets. Letzteres würde konkret bedeuten, dass man in Hinblick auf die Mittelausstattung die gegenwärtig dominanten Bereiche Regional- und Landwirtschaftspolitik zugunsten jener Bereiche, welche die globale Wettbewerbsfähigkeit sichern, kürzt. Die Entscheidung liegt bei den Mitgliedstaaten! Hier gilt es Farbe zu kennen: man kann nicht mehr globale Wettbewerbsfähigkeit, mehr Sicherheit etc. fordern, ohne in diese Bereiche zu investieren!
Die Industrie Niederösterreich bekennt sich klar zu Europa und zur EU. Allerdings hinterfragen wir kritisch, warum viele Ideen aus Brüssel gut gemeint, aber aus unserer Sicht schlecht umgesetzt sind. Hier ein Beispiel: das Lieferkettengesetz mit dem massiven Anstieg an bürokratischen Anforderungen durch ausufernde Sorgfaltspflichten, die aufgrund des Aufwands wohl zu finanziellen Mehrbelastungen für Unternehmen führen wird. Auch beim Green Deal fragen wir uns: Wird es ein Reporting-Monster? Herr Kommissar Hahn, warum ist Europa eigentlich so kompliziert?
Zunächst eine Klarstellung: „Ideen aus Brüssel“ ist eine Verallgemeinerung. Was steckt dahinter? Gemeint ist die Europäische Union, die aus drei Institutionen besteht: der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind. Wenn es also um „Ideen aus Brüssel“ geht, dann hat die Europäische Kommission, die das Initiativrecht hat, einen Vorschlag gemacht, der vom EU-Parlament und dem Rat erst angenommen werden muss. Im Wege dieses Entscheidungsprozesses kommt es meistens zu Änderungen des Kommissions-Vorschlags, wie es auch im Falle des Lieferkettengesetzes geschehen ist. Das Ergebnis ist ein Kompromiss, in den die Stellungnahmen aller Institutionen und ihrer Vertreter eingeflossen sind. Dazu kommen noch umfangreiche Konsultationen mit Interessensvertretern. Das ist natürlich ein langwieriger Prozess, der aber – und damit bin ich schon bei ihrer Frage, warum Europa so „kompliziert“ ist – die Breite der Meinungen präsentiert. Die Berücksichtigung unterschiedlichster Positionen ist sicherlich eine komplexe Herangehensweise, garantiert aber eine demokratische und transparente Entscheidungsfindung. Daher bin ich gegen Kritik, dass Europa „zu kompliziert“ sei. Die großen Herausforderungen unserer Zeit , vom Klimawandel über Migration bis zur Bedrohung unseres demokratischen Systems, sind nicht mit einfachen Antworten zu lösen, auch wenn Populisten das weismachen wollen!
Nun aber zum Lieferkettengesetz, dessen Ziel es ist, soziale und ökologische Standards entlang der gesamten Lieferkette zu verbessern. Das ist nicht nur im Einklang mit den Werten der EU, sondern ein Wettbewerbsvorteil! Denn die Richtlinie sorgt dafür, dass europäische Produkte nachhaltig produziert werden und auf dem Weltmarkt Vorreiter hinsichtlich ökologischer und ethischer Qualitätsstandards sind. Viele Unternehmen haben diese Standards bereits auf eigene Initiative eingeführt, es ist daher ein Vorteil, wenn diese Bestimmungen nun für alle betroffenen Unternehmen gelten. Und es gibt auch in einigen Mitgliedstaaten Lieferkettengesetze auf nationaler Ebene, daher ist es durchaus sinnvoll auf EU-Ebene eine Richtlinie zu haben, um einen regulatorischen Wildwuchs zu vermeiden.
Was die Berichterstattungspflicht sowohl beim Lieferkettengesetz als auch bei Maßnahmen des Green Deal betrifft, ist es wichtig, dass bei der Umsetzung in nationales Recht mit Augenmaß vorgegangen wird. Denn Bürokratie ist auch sehr oft hausgemacht – Stichwort „Gold-Plating“.
In der öffentlichen Debatte rund um Herausforderungen und Krisen fällt häufig pauschal 'die EU' als vermeintlicher Sündenbock. Wie bewerten Sie diese Tendenz der Schuldzuweisungen an 'die EU'?
Es ist leider ein eingeübter Reflex, dass man immer die höhere Ebene für unpopuläre Entscheidungen verantwortlich macht. Ich kann es am Beispiel Österreichs festmachen: früher hat man in den Bundesländern gerne mit dem Finger nach Wien gezeigt, selbst wenn man an Entscheidungen mitgewirkt hat. Heute schiebt man die Verantwortung auf Brüssel, obwohl die Mitgliedstaaten ja an allen Entscheidungen beteiligt sind. Ein guter Teil der EU-Skepsis rührt daher, dass politische Verantwortungsträger in den Mitgliedstaaten Erfolge nationalisieren und scheinbare Misserfolge europäisieren. Man sollte dieses Muster daher endlich durchbrechen und korrekt über die Entscheidungsfindung in der EU und den Anteil der Mitgliedstaaten daran kommunizieren. Das ist gerade vor den Europa-Wahlen wichtig, um Wähler zu motivieren, ihre Stimme abzugeben. Denn wir brauchen jede Stimme, wenn wir wollen, dass sich Europa im Interesse seiner BürgerInnen in Frieden und Wohlstand und als globaler Akteur – sowohl außenpolitisch als auch wirtschaftlich - weiterentwickelt.
Sie waren viele Jahre EU-Kommissar und werden nach den Europawahlen aufhören: Wie lautet Ihr Resümee über Ihre Zeit in Brüssel?
Wenn ich am Ende meiner langen Amtszeit – mehr als 5.000 Tage im Dienste Europas – meine Karriere in der Europäischen Kommission beende, werde ich mit Stolz aber auch mit Wehmut auf die letzten 15 Jahre zurückblicken. Mit Stolz, weil ich immer wieder erlebt habe, dass die Europäische Union nicht nur jede Krise - von der Finanzkrise über COVID bis zum Krieg gegen die Ukraine – gemeistert hat, sondern auch gestärkt aus den Krisen hervor gegangen ist. Und ich bin natürlich auch stolz, dass ich meinen Beitrag zu dieser beständigen Weiterentwicklung der Union leisten konnte. Ich werde mit Wehmut zurückblicken, weil es eine äußerst arbeitsintensive, aber unvergleichlich bereichernde Erfahrung war, mit Experten-Teams aus allen europäischen Ländern an spannenden Zukunftsprojekten zu arbeiten. Es ist eine Arbeit, die meinen Horizont erweitert hat und dafür bin ich dankbar. Und selbstverständlich werde ich, was immer ich auch in Zukunft tun werde, ein überzeugter Europäer bleiben.
Was sind Ihre persönlichen Pläne für die Zukunft?
Das erworbene Know-How – wenn gewollt – an nächste Generationen weiter zu geben.